Artikel vom 11.10.2022

Blinddate im Standesamt: Erst mal heiraten, dann verlieben



Es geht gegen Mitternacht: Plötzlich erspähen Sie in der anderen Ecke des Raums die Liebe Ihres Lebens. Und beschließen sofort: Der oder die ist es! Glückwunsch, Sie haben sich eine Goldmedaille für Risikofreude verdient. Doch weil in TV-Welten nichts unmöglich ist, braucht es für ein begeistertes Ja! nicht mal mehr den ersten Liebesblick: Einen komplett Fremden heiraten - kann das gutgehen?

Computerliebe oder "Hochzeit auf den ersten Blick"

Die Tinte unter der Heiratsurkunde ist trocken. Soweit, so unspektakulär. Doch die 34-jährige Bielefelderin Michaela hat gerade einen Mann geheiratet, den sie gar nicht kennt. Keine seit Kindertagen arrangierte Ehe, sondern nackte Tatsache in der Reality-Welt von Sat1. Das Kuppelformat "Hochzeit auf den ersten Blick" bringt Menschen zusammen, die sich noch nie zuvor gesehen haben. Wer hier wem ewige Liebe und Treue schwört, knobelt der Computer aus. Auf Basis wissenschaftlicher Auswertungen, weshalb die Programmmacher sich für so qualifiziert halten, bei diesem Matching-Prozedere von einem Sozialexperiment zu sprechen. Kann es gutgehen, sein Liebesglück in die Hände so genannter Experten zu legen?

Hochzeit als Entertainment - wie geht das denn?

Das Unterhaltungskonzept liegt voll im Trend, der Sender wird mit Zuschriften geflutet. Tausende wollen dabeisein. Nach Bewerbungsbogen und Gesprächen schaffen es schließlich sechs Paare in die Sendung und im schicken Hochzeitsanzug und Brautkleid zum ersten Date - auf dem Standesamt. Zwei Fremde treten vor den Standesbeamten, geben sich vor laufenden TV-Kameras das Ja-Wort, ein zögerlicher Kuss. Nach dem ersten Blick auf den künftigen Partner kneifen? Erlaubt, aber bisher hat noch keine(r) nein gesagt. Dann geht's ans Kennenlernen. Der Sat1-Plan: Nach ein paar Wochen frischem Eheglück entscheiden, ob man zusammenbleiben will.

Expertengarantie: Wir finden den perfekten Partner!

Zu den Matching-Experten, die hier Ehepaare auf Basis von Analysen kombinieren, zählen Heilpraktiker, freikirchliche Pfarrer, Psychologen und Paartherapeuten. Via Fragebogen werden Persönlichkeitsfaktoren ermittelt. DNA-Tests sollen sicherstellen, dass man sich auch riechen kann. Psychotherapeutische Sitzungen beleuchten bisherige Beziehungserfahrungen und familiäre Verhältnisse. Damit die Sache schön rund wird, kommen auch Wohnsituation und Lieblingsfarben sowie Übereinstimmungen bei Sex, Empathie und Bindungsfähigkeit auf den Prüfstand. Wird der Ehemann von Michaela aus Bielefeld ihre Leidenschaft für Garten, Natur, Backpacking und Wandern teilen? Man darf gespannt sein - falls man erfährt, was nach der Sendung hinter den Kulissen passiert. Auch fragt sich, ob die Paar-Kombinationen über die Landesgrenzen der Bundesländer hinweg eine gute Idee sind. So ist in der aktuellen Staffel für die Brautaspirantin aus Berlin kein Berliner dabei. Also heißt es im Zweifelsfall nach NRW, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz oder Bayern umziehen - oder umgekehrt. Auch die Altersverteilung differiert: Unter den sechs Herren sind - anders als bei den Damen - auch zwei etwas ältere, sprich Ü-40 Kandidaten.

Testfrage: Bist du bereit für die Ehe?

Wer Dr. Sandra Köhldorfer hierauf antwortet, wird zu 100 Prozent mit dem Kopf nicken. Um den Sprung ins Ungewisse zu wagen, finden sich stets genug. Obwohl arrangierte Ehen - und um nichts Geringeres handelt es sich schließlich - in unserem Kulturkreis verpönt sind. Wie ticken diese Frauen und Männer, die auf den ersten Blick heiraten? Viele sind schon mehrere Jahre Single, einige bereits geschieden und wurden oft enttäuscht. Ich fühle mich einsam, so die ehrlichen Bekenntnisse, ich vermisse Nähe und Zärtlichkeit. Aber den Glauben an die große Liebe habe ich trotzdem nie aufgegeben! Na - ob sie diese im TV finden werden?

Anonymer Heiratsmarkt geht in die 9. Staffel

Zumindest winken kostenlose Brautkleider und Flitterwochen. Denn Heiraten 2022 ist teuer, die zu erwartenden Kosten schnell mindestens vierstellig. Weil Braut und Bräutigam nicht nur Hochzeit spielen, gibt es keine Gage. Dafür übernimmt der Sender alle Hochzeitskosten; Frischvermählte erwarten Honeymoon-Ziele wie Karibik und Traumstrände in Europa. Später siegt dann doch bei etlichen der gesunde Menschenverstand: Wer das Brautkleid nach dieser Erfahrung gern loswerden möchte, versteigert es meistbietend. Denn die Misserfolgsstatistik spricht eine deutliche Sprache.

Bis dass der Tod uns scheidet? Eher nicht

Von den risikofreudigen Sat1-Paaren sind inzwischen noch weniger als eine Handvoll zusammen. Zwar wurde nicht jede der Blitzehen sofort nach den Flitterwochen wieder geschieden, sondern man bemühte sich, es "hinzukriegen", so einige. Das Konzept der selbstberufenen Experten, man könne Liebe lernen, ging nicht auf. Kein Wunder: Nichts gegen Partnervorschläge und wissenschaftliches Matching, aber diese sind lediglich eine Basis, um Mann oder Frau fürs Leben selbst auszuwählen. Pech gehabt: Die Scheidung zahlen die wagemutigen Heiratskandidaten aus eigener Tasche.

Auch Zuschauer unzufrieden: Werbung und "Fehlgriffe" nerven

Zeugen der vorkonfektionierten Romantik-Events beklagen, sie müssten zu oft so genannte "Fehlgriffe" des Senders bei Braut oder Bräutigam ansehen. Auch dass zwischen den Paaren viel hin und her gezappt wird, stört einige. Und direkt vor dem Traualtar schnell noch eine Werbeunterbrechung - Unverschämtheit! Kritik, die auf ihre Art eine eindeutige Sprache spricht: Ehegelöbnisse ernst nehmen sieht anders aus! Unter solchen Konditionen zu heiraten, macht Hochzeiten irrelevant - von Abstumpfung und Verfall zwischenmenschlicher Standards ganz zu schweigen.

Das nächste Jawort kommt bestimmt! Sendung zieht Ehe ins Lächerliche

Wie verzweifelt müssen Erwachsene sein, Teil eines solchen Formats zu werden? Und welches Niveau verkörpern Experten, die sich, dem offiziellen Show-Motto "Wenn aus Wissenschaft Liebe wird" folgend, praktisch zum Affen machen? Zumal anscheinend auch niemand einen Gedanken an potenzielle psychische Nachwehen der Probanden verschwendet hat. Doch weiter geht's: Neue Staffel, neues Glück. Hauptsache heiraten, wen ist egal - nur endlich nicht mehr solo durchs Leben gehen. Was ist schon dabei, argumentieren manche Fans des Formats: Unter normalen Umständen sei es auch nicht leichter, einen passenden Ehepartner zu finden. Auch im wahren Leben würden sich Traumprinzen später als hässliche Charakterfrösche entpuppen. Ja, da ist was dran.

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